Freitag, 15. Juni 2007

Sonnenhunger

Sie fluten heran. Zu zehntausenden drängen sie nach Süden. Rasen und stauen tage- und nächtelang auf den oft mörderischen deutschen Autobahnen. Quälen sich in endlosen Stunden durch unsere Alpenpässe. Und der Süden beginnt. Da liegen sie schon nackt auf den warmen Felsen nahe den manchmal tückisichen grünen Fluten der Verzasca. Viel Haut, viel Lust, ein wenig Aergernis und 1.37 Ertrunkene pro Jahr. Aber weiter! Wo ist die strada del sole? Endlich die Strände am Meer Quadratkilometer von Haut rufen nach Sonne. Die halbe Menschheit ist nur noch Epidermis. Die Sonne hält nicht zurück. Aber sie markiert. Unmerklich erst. Ueber das Epithel erfasst sie den Menschen Dann der Schlag: der schwarze Krebs. Da nützen auch die stärksten Therapiestrahlen nichts mehr. Aus das Licht! Tragisch. War dies das Licht ihres Lebens, jenes an den Stränden, Jenes Licht, nachdem sie ihre Epidermis schreien liessen. Und das andere, unauslöschliche Licht ihres Lebens? Müssen sie es noch auf dem Spitalbett suchen Da stehen wir in der wahren Tragödie. Nicht der vollen Tragik noch.
Weiter nach Süden. Andere Menschen. Keine Epidermisprobleme. Die Haut ist schwarz, hat genug Sonne. Anderer Hunger. Hier ist es das Endothel (Lexikon: Auskleidung von Körperhöhlen) das schreit. Millionenfach: Hunger und weitere Millionen: Hunger Hunger
Und, wenn ich ganz Endothel bin, dann brenne ich, bin nur noch schreiendes Feuer. Und ich zehre den Menschen auf. Der Hunger wird zu einem einzigen Schei der Millionen. Und sie verhungern. Wie viele Tausend jeden Tag? Zum Teufel mit den Statistiken, solange wir ihren Schmerz nicht spüren.
Und hier kommt der schwierige Schritt zur dritten Tragödie. Ihr Hungern und Verhungrn bezahlt unser irres Rennen nach der Sonne. Keiner der fühlt denkt hier an den verschwitzten Kumpel, den Nachtschichtarbeiter, ja ich würde auch den Direktor nicht ausschliessen, der die besten Jahre, die schönsten Famailienmfreuden, vielleicht seine Seele geopfert hat, um dort hinauf zu kommen, wo er meinte, dass die Sonne schöner scheine. Ihnen allen möchte ich sagen: Kommt doch, gehen wir an die Verzasca. Wo ist sie? Sie hat tausen Namen. Für mich heisst sie tatsächlich einmal im Jahr Verzasca. ein andermal kann es auch der Rhein sein, dort wo er noch ein Wildbach ist. Und vielleicht ist es Euer Dorfbach. Ich bin privilegiert, auch geografisch. aber vor allem, weil ich eine Ahnung von einem andern Sonehunger habe. Ich vregesse das Uebel nicht. Der Wurm sitzt aber viel tiefer im Erdreich der Menschheit. Er nagt an der Wurzel Er verdirbt uns. Lasst uns den ausgraben und in einen Schmetterling verwandeln, damit er nicht als Drache aufsteigt. Hautflügler alle beide. Tamaro

Montag, 28. Mai 2007

Wundmale

Es gibt immer wieder Personen, meist Heilige, welche die Wundmale Jesu an sich tragen. Stigmata. Sie sind stigmatisisert.
Wir alle haben Wundmale. Nicht an den klassischen Stellen, an durchbohrten Händen und Füssen, an geöffnetem Herzen, als Dornenkrone. Sie sind überall, an verdeckten, unvermuteten, an geheimen Stellen, ja im Innersten des Hezens. Wir können sie auch in einer Dimension tragen,die sich anatomisch nicht festlegen lässt. Wir können sie vielleicht als leichten oder stärkeren Schmerz empfinden,je nachdem wohin wir unsern Blick richten. Unsere Wundmale bluten auch nicht am Freitag. Sie sollen aber zu bluten und zu schmerzen beginnen, wenn wir jenen Menschen mit den offenen Wunden,mit dem hellen Schmerz, mit der schreienden Not begegnen, den als stigmatisiert Verachteten, den als "aussätzig" verstossenen, den moralsich Geächteten. Und wenn wir unsern Blick auf sie richten, wenn wir vielleicht mit ihnen zu tun haben, wegen unseres Berufes, wegen auferlegten Verpflichtungen, weil sie uns ansprechen, oder weil wir sie aufsuchen auf Grund unserer christlichen Berufung, da sollen unsere Wundmale lebendig werden,die Narben aufbrechen, die Einheit im Schmerz spürbar werden. Selbst bei einer oberflächlich scheinenden Begegnung kann ein Deutlichwerden unseres versteckten Schmerzes anzeigen, dass etwas mehr, dass ein Anderer auf uns zukommt. Da müssen wir das Ansteigen des Schmerzes zulassen, und die gemeinsame Erfahrung wird uns lehren, ob wir bescheidene Heiler sein sollen, begabte Umweltorganisatoren, oder ob wir, wenn wir beim, Blick auf die Welt sehen, dass der Schmerz überhand nimmt und alles samt uns zu verschlingen droht, müssen wir wohl eins werden auch im Schrei, der aus diesen Wunden aufsteigt.
Die Heiligen versenkten sich in die Betrachtung der Wundmale des Herrn und unversehens bluteten sie. Unser Prozess ist ein umgekehrter. Wir erfahren zuerst den Schmerz, die blutenden Wunmdmale, in uns, im andern, eins im gleichen Schmerz. Dann richten wir den Blick auf Ihn der die Heiligen Wundmal sich am Kreuz gegeben hat und der uns von Aauferstehung spricht.
Und wenn wir mit alledem Mühe haben,so blicken wir wieder auf ihn, der vor uns steht, den Geringsten unserer Brüder. Wir werden ihn wieder sehen. Er ist es, der uns sagen wird: "Komm lieber Freund, wir haben zusammen gelitten, gehen wir jetzt ein in die unaussprechliche,unermessliche ewige Freude". Das letzte Wort der Pfingstsequenzu heisst ja "perenne gaudium" ewige Freude. Ein Aufblitzen jener Freude können wir -vielleicht selten einmal - sehen im Auge jenes Geringsten, wenn er von uns Liebe erfahren konnte. Und unser Wundmale vrklären sich.
Pfingsten 2007 Tamaro

Montag, 14. Mai 2007

Die Zeder

Vor dem Fenster steht die Zeder. Seit einem Jahr wohne ich hier und sehe sie jeden Tag. Sie steht schon seit dem vorletzten Jahrhundert da, vielleicht schon länger. Mächtig, hoch, die Aeste stark wie Bäume, weit.
Jedes Jahr wachsen die Spitzen der Zweige ganz wenig. Immer wieder trägt sie Zapfen, wirft sie ab. Vielleicht wachsen irgndwo Zedern. Millimeterweise wird der Stamm stärker, immer mehr Holz.
Und eines Tages
gefällt
nur noch Holz, verarbeitet, wird zu Möbelstücken, Tisch oder Stuhl oder zu einem Werkzeugteil, hält lange,dient lange, gutes Holz!
Und Stück um Stück wird alt,unbrauchbar.
Wird verbrannt
Ist nur noch Feuer
Sage mir, was ist das Wesen des Baumes?
Sage mir, was ist das Wesen des Menschen?

Tamaro

Sonntag, 8. April 2007

Karfreitagskind

Vor kurzem habe ich die Geschichte eines armen Kindes gelesen, das viel zu leiden hatte (José Mauro de Vasconcelos: "Wenn ich einmal gross bin"). Es hat mich ziemlich betroffen gemacht, weil ich manches was da geschildert wird aus eigenem Erleben kenne. Ich habe an dem bitteren Kelch zwar nur genippt. Aber es genügte, um mich wissend zu machen. Die Gedanken sind mir am Karfreitag gekommen, aufschreiben tue ich sie am Ostersonntag. Da mag schon ein neues Licht durchschimmern.
Kind! Ich nenne Dich Bruder, ich nenne Dich Jesus, auch wenn Du ein Mädchen bist, Kind Du bist überall, Du bist auch in mir. Kind, das kein Recht hat, Kind, auf dessen Gefühlen herumgetrampelt wird. Kind, das verhungert, zu zehntausenden Kind, dessen Seele mit sexuellen Uebergriffen beschädigt wird, Kind, das ausgestossen wird, Kind, das genital verstümmelt wird, Kind, das nicht geliebt wird, Kind, ich sehe Dich hinabstürzen in tiefe Nacht, Dunkelheit, Kälte, Kind, im Gefängnis der eigenen Verbitterung und Verhärtung, Kind, das verurteilt wird, Kind, das sein innerstes Wesen verleugnen muss, Kind, das niemandem Liebe zeigen darf, Kind, das geächtet wird, Kind, dessen Schrei unterdrückt wird, Kind das abgetrieben wird und abgetrieben hat, Kind, das zusammen geschlagen wird,!Kind, . . woher kommt mir dies? das ist kein Wort, das ist ein Schrei: Kind, das gekreuzigt wird, nicht einmal, milliionenfach! und die Dich kreuzigen tragen ein Kreuzzeichen als Schmuck, nennen sich manchmal fromme, manchmal Christen, manchmal Gerechte . . . Darf ich nicht schreien an diesem heiligen Tag? aber derSchrei ist da,mächtig und will hinaus
Man sagt, es sei jetzt Ostern. Wage ich es, dies Dir gegenüber auszusprechen? Wäre es möglich, dass Du es hören kannst? Wäre es möglich, dass wir, die wir an Ostern glauben, Dich liebend wärmend an uns nehmen, Dich in Liebe zu halten, bis es möglich wird, dass Du Dein Herz auftust. Vielleicht braucht es dafür auch bei Dir Jahrzehnte. Tamaro

Freitag, 6. April 2007

Einssein, Joh. 17.21

Einssein. Dies ist keine Theologie. Nur Gedanken, die mir aufkommen, weil ich das Ausschliessen fürchte. Stichwörter (in Klammerneinzelne Kommentare dazu, keine Begründung).
Einssein mit: Atheisten (sie sind beinahe die Einzigen, die das zweite Gebot respektieren)Ketzer (ja,ja, ich auch) Frauen (meine weiblichen Qualitäten gehören zum Kostbarsten, das ich bekommen habe)Kranke (als Arzt weiss ich um deren Ausgrenzung)Feiglinge (ich war nie mutig)Hungernde (ich gebe ihnen zu wenig)Rebellen (nahe Verwandte)EhebrecherInnen (betroffen) Exkommunizierte (eigene Erfahrung)Gewattätige (damit sie sich zurück nehmen können)Bauern (sie stehen der heilige Erde nahe) Heiden (wir sind so voller Ahnungen)
Zuletzt musste ich vom "sie" auf "wir" schalten, und dies wäre eigentlich durchgehend richtig gewesen.
Bitte um Fortsetzung Tamaro

Dienstag, 3. April 2007

Ketzerei

Paulus schreibt (ungefähr): "da gibt es weder Beschnitene noch Unbeschnittene, weder Mann noch Frau etc."
Darf man auch etwa folgende Begriffspaare anfügen?
Frohe - Leidende, Dumme - Gescheite, Schöne - Entstellte, Sanfte - Polterer, Konservative - Progressive, Normale - Irre, Gesunde - Kranke, Katholiken - Evangelikale , Heterosexuelle - Homo- und Transsexuelle, Weisse - Schwarze, Süchtige - Drogenfahnder
Rebellen - Ordnungshüter, Ordensleute - Exkomunizierte . . .
Braucht es nicht uns alle zur Vollständigkeit des Reiches Gottes, das da kommen soll?
Hat jemand Lust zur Fortsetzung?

Freitag, 30. März 2007

Grunderfahrung

Spiritualität ist für mich die Gewisssheit einer "andern Dimension". Die Möglichkeit, Abstand zu nehmen, Ereignisse des Lebens neu zu beurteilen und von festgefahrenen Position frei zu werden, frei z. B. zu mehr Freude.
zentrales Beispiel: Im Hintergrund stehen traumatische Kindheitserinnerungn, an denen ich objektiv Schaden genommen habe. Es liess sich im Laufe des Lebens vieles teils kompensieren, teils verdrängen und zum Teil auch therapeutisch auflösen. "Etwas" blieb in der Tiefe, mehr oder weniger unbewusst bestehen. Dann, 1997, nach einer schweren ganztägigen Operation (ich hatte grosse Mühe, aus der Narkose heraus zu kommen) fühlte ich mich zutiefst verletzt. Ich ass nicht mehr, atmete mit Mühe. Dann brach alles auf: alle Verletzungen des ganzen Lebens wurden gegenwärtig mit den entsprechenden Reaktionen. Vorerst konnte ich lange nur noch weinen. Zwei Frauen (Aerztin und Physiotherapeutin) haben mich da liebevoll hindurch getragen. Dann kam Distanzierung, Neubeurrteilung, Aussöhnung, Akzeptanz und Verwandlung des Schweren in Reichtum.
Und wo steht nun da die Spiritualität? Da muss ich von meinem Verbündetren, dem Zufall sprechen. Als Jugendlicher, als es darum ging, erst einmal aus dem "Dreck" heraus zu kommen und ein tristes Fabrikarbeiterdasein zu vermeiden, begegnete ich der Religion in ihrer konfessionell katholischen Form, später kamen andere Formen dazu: Eine Vertiefung in "heidnische" Vorstellung, z.B. über die Grosse Göttin, ausgiebige Uebungen in Zen-Buddhismus, Meditation vorwiegend in buddhistischer Richtung Lektüre in der taoistischen Richtung (z.B. Tschuang Tse), Begegnung mit Menschen christlicher Prägung, deren Haltung überzeugten, und die keine Spur von Eingeengtsein an sich hatten, und immer wieder menschliche Zuwendung, die über die gewöhnliche Sympathie hinaus gengen. Und immer wieder ging ein Fenster auf, wurde es lichter, weiter. Seit dem Durchbruch 1997 geht der Prozess weiter. Nun bewusster spirituell christlich getönt. Ich kann mich anlehnen, das grosse Du ansprechen